»Jede hod a Sissi-Kleid woin«*
erzählte die 92-jährige Genoveva Ketterl aus Einsbach im Interview, das in der Ausstellung ›Arbeitswelten‹ vollständig zu hören ist. Als 14-Jährige begann sie in Fürstenfeldbruck ihre Ausbildung zur Schneiderin. 1948 richtete sie sich auf dem elterlichen Anwesen eine eigene Werkstatt ein. »Lauter Sissi-Kleider, mit (….) Tüll und (…) Spitzen drüber« habe sie für Bräute genäht, erinnerte sie sich.* Schauspieler und Schauspielerinnen waren damals wie heute wichtige Influencer in Sachen Mode, und in den 1950er- und 60er-Jahren träumten viele junge Mädchen von den schönen Kleidern der Sissi-Darstellerin Romy Schneider.
Man muss das Rad der Geschichte nicht allzu weit zurückdrehen. Bevor Billigkleidung und jährlich mehrmals wechselnde Modekollektionen den Textilmarkt überschwemmten, waren Kleider, Hosen, Mäntel und Jacken sowie alle anderen Kleidungsstücke ein kostspieliges und langlebiges Gut. Bekleidung wurde dementsprechend gepflegt, geflickt und solange getragen bis sie schließlich als Putzlappen oder Hadern (in der Papierherstellung) ihren letzten Dienst tat.
Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde entsprechende Kleidung von Damen- oder Herrenschneidern als Einzelstück von Hand bzw. später mit Hilfe einer Nähmaschine hergestellt. »Noderin« nannte man die Schneiderin hierzulande. Sie wurde mit der Herstellung, Änderung und Ausbesserung von Fest- und Alltagskleidung, Haushaltswäsche, Berufs- und Babykleidung wie für die textile Aussteuer der Braut beauftragt. Dafür kam sie nicht selten ins Haus, d.h. sie »ging auf die Stör«. In dieser Zeit lebten die Schneider*innen im Haushalt des Auftraggebers und bekamen neben Kost und Logis auch einen vereinbarten Lohn.
Die Schneiderei war einer der wenigen Lehrberufe für Frauen, der ihnen ein unabhängiges, wenn auch bescheidenes Leben ermöglichte. Denn »Schneider und Schneiderinnen galten als arm«, wie Rosmarie Henkel aus Pipinsried berichtet.* Sie hat in den 1950er-Jahren die Ausbildung zum ›Herrenschneider‹ absolviert. Damals ein ziemliches Novum, da die Herstellung von Herrenbekleidung bis dahin ausschließlich Männersache war.
Da das Schneiderhandwerk anders als die Landwirtschaft oder manch andere Handwerke wie Schmied und Wagner zwar Fingerfertigkeit, aber keine körperliche Kraft erforderte, gaben Eltern ihren körperlich schwächeren Nachwuchs nicht selten zu einem/-r Schneidermeister/-in in die Lehre. Die Karikatur vom »Schneiderlein« hat wohl keiner treffender gezeichnet als Wilhelm Busch mit seiner Figur des »Schneider Böck« im vierten Streich von ›Max und Moritz‹:
Jedermann im Dorfe kannte
Einen, der sich Böck benannte…
Alltagsröcke, Sonntagsröcke,
Lange Hosen, spitze Fräcke,
Westen mit bequemen Taschen,
Warme Mäntel und Gamaschen,
Alle diese Kleidungssachen
Wusste Schneider Böck zu machen…
Alles macht der Meister Böck,
Denn das ist sein Lebenszweck.
Drum so hat in der Gemeinde
Jedermann ihn gern zum Freunde.
Nach einem kurzen Boom in den ersten Nachkriegsjahren, in denen es in der Not galt aus alten Militäruniformen und -decken Kleidung herzustellen, wurde es für das Schneiderhandwerk wirtschaftlich zunehmend schwieriger. Da mittlerweile auch das weit verbreitete Modemagazin Burda Einzelschnittmuster herausbrachte, war es nun auch geübten Hobbyschneiderinnen möglich, passende modische Kleidung selbst zu nähen. Zunehmende Fließbandarbeit und industrielle Produktion verbilligte die Herstellung von Kleidung weiter und brachte das Schneiderhandwerk allmählich fast zum Erliegen.
In den ersten Nachkriegsjahren baute der gelernte Eisendreher Georg Scherer (1906–1985) gemeinsam mit dem Schneidermeister Ernst Bardtke (n. e. –1966) in der Münchner Straße in Dachau die Kleiderfabrik Bardtke & Scherer auf. Sie ist ein Beispiel für die beginnende Verdrängung handgefertigter Schneiderware durch die industrielle Bekleidungsproduktion ab der Mitte des 20. Jahrhunderts.
*Zitiert aus: Arbeitswelten. Geschichte(n) über Handwerk und Gewerbe, Dachau 2021, 40.